Privacy – oder: Was mir mein Sohn über Geburt beigebracht hat

Die Länge der Geburt ist proportional zur Anzahl der anwesenden Personen.

– Michel Odent

Wir leben ja in Dublin und als mein großer Sohn kürzlich mitten in der Stadt ein dringendes Bedürfnis hatte, lies sich weit und breit keine öffentliche Toilette finden. Kurzerhand hob ich ihn etwas abseits auf ein Hochbeet und sagte ihm, er sollte jetzt Pipi machen. Von so weit oben konnte er aber alle Menschen auf dem Platz sehen (sie ihn aber nicht) und meinte verzweifelt zu mir: „Mama, es geht nicht, die ganzen Leute!“ Das kann sicher jeder gut nachvollziehen. Ich sagte dann zu ihm, er solle die Augen schließen und sich vorstellen, er sei allein. Und schon funktionierte es. Er war selbst davon überrascht. Mit geht es übrigens mit Stuhlgang auf öffentlichen Toiletten ähnlich, vielleicht kann das der ein oder andere von euch ebenso nachfühlen. Was hat das jetzt Geburt zu tun?

Wir vergessen in unserer technisierten Welt leider allzu oft, dass Geburt ein tiefgehender emotionaler, physischer und psychischer Balancheakt ist, der sehr sensibel gegenüber äußeren Einflüssen ist. Und wenn ein Toilettengang und Gebären auch nicht exakt der gleiche Vorgang ist, so gibt es doch parallelen zwischen den beiden Vorgängen. Man muss bei beiden geistig und körperlich locker lassen können; und das geht am besten allein oder allenfalls mit vertrauten Personen. Erst als mein Sohn sich allein fühlte, funktionierte es und das ist ja auch irgendwie verständlich. Leider ist das im Bezug auf Geburten nicht so klar und entsprechend ist die „normale“ Geburtshilfe darauf nicht ausgerichtet. Ein Aspekt den ich für essenziell für eine normale Geburt halte ist also Privatsphäre, englisch Privacy. Den Begriff hat Michel Odent in verschiedenen Publikationen und seinem Buch „Geburt und Stillen“ geprägt. Er beschreibt Privacy als den Zustand, in dem wir uns unbeobachtet und geschützt fühlen; und zieht den englischen Begriff auch in der deutschen Ausgabe seines Buches dem deutschen vor.

Odent hebt hervor, dass Menschen, auch wenn wir das gern vergessen, Säugetiere sind. Und alle Säugetiere, auch diejenigen, die im Rudel oder der Herde Leben, ziehen sich zur Geburt an einen ruhigen geschützten Ort vor ihrer Gruppe zurück. Dieser Rückzug ist essentiell für eine physiologische Geburt, da nur durch die Ungestörtheit der Mutter eine normales Zusammenspiel der beteiligten Hormone und Reflexe möglich wird. Wenn wir uns also fragen, wieso Geburten schmerzhaft sind, wenn sie es nicht sein müssten, dann könnte fehlende Privatsphäre unter der Geburt eine von mehreren Antworten sein.

Was stört die Privatssphäre unter der Geburt?

  • Helles Licht
  • Häufige und unnötige Untersuchungen, zum Beispiel vaginale Ubtersuchungen, CTGs, Blutabnahme oder Infusionen
  • Harrsche Behandlung durch (gestresstes) Krankenhauspersonal
  • Wechsel der betreuenden Hebammen
  • Zu viele Beteiligte
  • Offene Türen
  • Lautes Reden

Wenn man sich die Geburt des Babys als Vollendung des Geschlechtsaktes vorstellt, dann weiß man, welche Umstände eine Geburt begleiten sollten. Eine gute Daumenregel ist also, dass die Atmosphäre bei der Geburt so sein sollte, wie bei der Zeugung des Babys:

  • Ein abgedunkelter Raum, in dem man sich unbeobachtet fühlen kann
  • Möglichst wenig Beteiligte
  • Möglichst wenige störende Eingriffe und wenig verbale Kommunikation mit der Gebärenden
  • Entspannende heimelige Atmösphäre
  • Im Idealfall kennt man den Ort an dem man gebären will vorher und fühlt sich zu Hause

Wenn man sich die große Bedeutung von Privacy für eine normale Geburt erst einmal bewusst gemacht hat, kann man auch verstehen wieso einige Frauen sich für eine Hausgeburt entscheiden und nicht wie die große Mehrheit für eine Geburt im Krankenhaus. Und dann versteht man auch die Bedeutung von (freien) Hebammen, die oft viel mehr als Ärzte und Klinikpersonal die Privatsphäre von Gebärenden achten. Wenn man eine Hebamme über die ganze Schwangerschaft kennenlernt, wird sie fast wie eine Freundin für die Schwangere und wird bei der Geburt dann nicht mehr als Fremdling wahrgenommen. Auch deshalb ist die Arbeit von Hebammen nicht zu überschätzen.


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Ich wünsche Dir alles Gute und viel Kraft auf Deinem Weg.  – Susanne